
Vom dürfen wollen und wollen dürfen
*TRIGGER WARNING* Dieser Beitrag enthält sehr persönliche und teilweise unangenehme Eindrücke. Wer das nicht hören will oder kann, möge bitte in seinem Browserfenster ein Symbol mit einem „x“ suchen und beherzt darauf klicken ;-). You have been warned…
Ein sehr interessantes Erlebnis hatte ich in der Tokyo Ramen Street, einer Restaurantmeile unterhalb des Bahnhofes. Wir waren gerade am frühen Nachmittag angekommen und hatten einen Bärenhunger, so haben wir uns also mit unseren Rucksäcken beladen durch die Menschenmenge gekämpft um eine Suppe zu schlürfen. Die Restaurants sind, wie alles in Tokyo, sehr klein und der Platz ist beengt. Zu beengt für Leute mit großen Rollkoffern oder 70l – Backpacks, würden manche sagen. Von der tatsächlichen Situation habe ich kein Bild, aber die Beispielbilder mögen in etwa illustrieren wo das Problem lag.
Schon vor dem Restaurant hatte ich den starken Impuls, das geht nicht, wir können hier nicht rein, wir müssen sofort Schließfächer suchen. Die Phantasien, was passieren würde wenn wir mit Rucksack in das Restaurant gingen, erspare ich euch. Andrea schaute mich verwundert an als ich irgendwas von Schließfächern brabbelte und meinte, naja, einfach mal probieren. Was soll schon passieren, wenns nicht passt dann können wir immer noch Schließfächer suchen? Ja, feuerte es aber in meinem Kopf, die Japaner sind aber so höflich und würden es uns nicht sagen, ALLE WÜRDEN UNS HASSEN UND WIR WÜRDEN ES NICHT EINMAL MERKEN, BIS ES ZU SPÄT WÄRE!!! Zu spät heißt: Wer sich falsch verhält wird bestraft, egal ob er die Regeln kannte oder nicht. Bzw die Regeln können sich je nach Situation auch ändern, maßgeblich ist die Emotionalität des Gegenübers (böse Erinnerungen…).
Schon waren wir im Restaurant. Wir versuchten unsere großen Backpacks irgendwie im Gang zu positionieren, hofften das würde schon passen, da kam ein Mitarbeiter und bat uns, die Backpacks auf die beiden Stühle neben uns zu packen (wir saßen an einem offenen 4er Tisch) und blickte, wahrscheinlich nur für mich wahrnehmbar, gehetzt zur Tür ob da ein Gast wäre, der dann keinen Platz mehr hätte. Gesagt getan, rauf auf die Stühle, für alle sichtbar ein Emblem: DIESE ZWEI TROTTEL HALTEN SICH FÜR ETWAS BESONDERES, ZUM ABSCHUSS FREIGEGEBEN! Als Andrea ihn fragte, ob das nun so okay sei, schaute er schmerzerfüllt und meinte „maybe“. Japanisch bzw. Passiv-Aggressiv für NEIN, IHR DEPPEN !!!11elf. Und da wars schon geschehen. Der restliche Aufenthalt im Restaurant fühlte sich in etwa so an wie Private Paula, der seinen Strafkrapfen verspeist, während seine Kameraden Liegestütze machen:
Ich erinnere mich noch daran, dass hinter uns zwei Japaner leise miteinander sprachen und ich mir ausmalte, wie Sie gerade über uns urteilten: Diese verfluchten Geijins, unglaublich wie sich die hier verhalten. „Rücksicht schreibt der mit drei ck!“ (ein Insider). Als der Kellner uns die Suppe brachte, dachte ich zuerst er wäre der bouncer, der uns nun rausschmeißt, während alle mit dem Finger auf uns zeigen oder applaudieren. Ich glaube es war ein Projektionsversuch, als ich dann Andrea fragte ob Sie sich denn nicht total unangenehm fühle hier im Restaurant, wegen unserer Backpacks und den Umständen, die wir verursachen… Die Antwort war überraschend: Nö. Warum denn? Ist doch ein Restaurant in einem Bahnhof, wir sind bestimmt nicht die ersten die hier mit Koffern rein kommen? Nachdem ich den Impuls, sie dafür zu entwerten, zugelassen aber nicht ausgeführt hatte (deshalb bin ich mir sicher, es WAR Projektion) und wir die Situation hinter uns gelassen hatten habe ich länger darüber nachgedacht.
Stimmt eigentlich. Warum ist es mein Problem, dass sich ein Bahnhofsrestaurant keine Lösung für so ein Problem ausdenkt? Interessiert es denn das Restaurant, woher ich das Geld habe und dass der ATM mal wieder nicht funktioniert hat? Ich erinnere mich an eine Amerikanerin, die in Thailand auf einer Fähre mal nach Schwimmwesten fragte, es wären nur ca. 10 da bei fast 100 Gästen. Auf das lächelnd vorgetragene „no have, sorry“ sagte sie nicht unhöflich, aber entschlossen: „Well, then bring some!„. Damals fand ich das unmöglich, aber Moment mal, warum eigentlich? Und warum akzeptiere ich die passivaggressive Schuldzuweisung des Kellners sofort – wenns ihm nicht passt soll er doch sagen geht nicht, bitte ohne Rucksäcke wiederkommen? Gut die Antwort ist einfach, ich wurde darauf konditioniert die Emotionen von Bezugspersonen sofort zu lesen und mich daran anzupassen, um zu überleben. Anzupassen heißt, eigene Bedürfnisse komplett auszublenden. Aber in diesem Fall, was soll schon passieren (der Kellner war nicht größer als 1.70)? Und überhaupt, das Geld hat er doch auch genommen… und zwar nicht nur maybe :-D. Was ist das Problem zu sagen, ja ich bin mir bewusst dass das nicht ideal ist aber ich hab Hunger und keinen Bock erst 50 min Roundtrip zum Hotel zu fahren, ich bin jetzt hier, bin dein zahlender Kunde und will eine Suppe und darf die auch in Ruhe essen? Und wenn das so schlimm ist, ihr steht doch hier auf stetige Verbesserung – dann macht doch eine Gepäckecke auf und verlangt 100 yen dafür – kein Problem, die Beratung war gratis?
Das ist sicher eine Frage der Erlebnisse die man in seinem Leben zu solchen Ereignissen gemacht hat. Ist es ok, wenn man eigene Bedürfnisse entwickelt, oder werden diese als Bedrohung wahrgenommen? Gestattet man sich diese dann später selbst? Die Reise an sich bedeutet für mich wie vorher gesagt -wenn auch auf einem abstrakteren Maßstab – ja auch genau das. Ich darf das, ich will das. Aber in der Situation gibt es dann doch manchmal Trigger, mit denen man umgehen muss.
Achja, und die Suppe? Die war lecker, und wir kamen noch zweimal wieder.

