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Deutschland aus der Entfernung

Flashback. München, 04.05.2023

Ich erinnere mich noch sehr gut an die S-Bahn zum Flughafen. Sie war stark überfüllt, und wir quetschten uns noch mit unseren Backpacks in die letzte verfügbare Ecke. An der nächsten Station stieg eine junge Familie ein, mit 2 Kindern im Kinderwagen. So weit, so harmlos. Aber Achtung, wir sind in München. Und hier kommt der Gong, Ring frei für Runde 1…

Er: Hipsterbart, Patagonia-Jacke, nach hinten gegelte halblange Haare, ein kleiner Ohrring um nicht ganz wie ein klassischer Münchner Yuppie auszusehen. Alter Mitte 30, Beruf wahrscheinlich Unternehmensberater mit Fokus auf Digitalisierung, noch nicht ganz beim Rocket-Ship-Enterprise gesettled aber definitiv auf dem Weg dahin, die exit-strategy auch schon gefixed.

Sie: Leinenkleidung, weil das einfach so natürlich auf der Haut und außerdem voll ökologisch und so ist, Barbie-Frisur und ein unmöglicher Amazonenhut (bei 5 °C und Regen). Alter Mitte 30 aber im Herzen noch 21. Beruf schwer zu schätzen, entweder Medizin studiert und dann gleich zweimal schwanger geworden (ups, was für ein Zufall!) oder Digital International Intercultural Design Arts und derzeit auf der Suche nach einem Arbeitgeber, bei dem sie völlig frei und ohne Druck 4 Stunden pro Woche ihre Kreativität zu Papier bringen kann – wenn die Kleinen grad schlafen.

Kaum waren die beiden Spackos im Zug, schon beherrschten Sie den Raum: „Sorry, ihr müsstet da mal bitte weg, weil das ist ein Platz für Kinderwägen und den bräuchten wir leider“. Mit großem Getöse pflügten sich die 2 Kinderwägen von der Größe eines Autoscooters (auch typisch München… bei mir bin ich ja nicht so, aber für die Kleinen gibt man ja das Geld gern aus, dafür hat mans ja!) durch die Menge. Ich hatte meinen Rucksack schon vorher auf die Seite geräumt als ich die beiden auf dem Bahnsteig gesehen hatte und war gerade schon auf dem Weg nach weiter hinten. Tatsächlich wurden ein paar Plätze frei, wir setzten uns. Papi leider auch, und zwar uns gegenüber. Runde zwei hatte begonnen.

Das Gespräch zwischen den beiden verlagerte sich auf das ganze Zugabteil. „Hat Moritz-Gerion heute eigentlich schon was getrunken? Er ist gerade so unruhig!“ – „Ja, ja, Schatz“. „Kannst du mal kucken, Fabienne-Drosophila weint!“ (ja, das haben wir alle mitbekommen, du Nuss!) „Ja, ich komme“. Irgendwann saß er und sein Kind uns dann gegenüber, aber er mit den Earphones am telefonieren. Klassischer Münchner S-Bahn-Talk: Ja da müssen wir die Präse nochmal klarmachen, er hat die message nicht verstanden, wenn wir den nicht auf unsere Seite bekommen wird das nie was mit dem Projekt, Moment ich muss mal kurz, die Kleine braucht mich, ja ich sagte MESSAGE, wir müssen die OPPORTUNITIES nochmal sauber rausarbeiten, blablablabla…. Ich hab die Augen zugemacht und meine Wut auf die beiden zugelassen, und mir dann klargemacht dass ich diesen Mist jetzt hinter mir lasse, für sehr lange Zeit…

Nachdem in Japan mitbekommen habe, wie rücksichtsvoll die Leute miteinander umgehen, gerade im Zug, kann ich darüber mittlerweile nur noch den Kopf schütteln. Es ist selbstverständlich und Bedarf keines Hinweises, und wenn dann genügt ein Lächeln. Lautes Telefonieren oder allgemein andere im Übermaß mit deinen Themen vollzudröhnen ist verpönt. Das Interessante ist, es macht sogar Spaß dabei mitzumachen, wenn die Andreren sich auch anständig verhalten. Mir fällt eine Beobachtung aus Tokyo ein, als ich vom Frühstückstisch aus miterlebt habe, wie ein Baustellenaufpasser (bestimmt schon über 60) mit der Hand die Kippenstummel auf der Straße aufhebt und in einer Tüte mitnimmt. Ohne irgendwen anzukacken, ohne dass es seine Aufgabe wäre, wahrscheinlich einfach nur aus Pflichtbewusstsein heraus. Seitdem passe ich sehr genau auf, dass aus meiner Tasche kein Müll herausfällt. Wer mich kennt, weiß was das für eine Besonderheit ist :-D.

Oder die Freundlichkeit der Leute in Taiwan – mit vielen vielen Beispielen. So oft haben wir Leute getroffen die uns einfach nur aus Freundlichkeit heraus geholfen haben. Und man erwartet dann als Deutscher immer den Haken, den Turnaround, das Haar in der Suppe. Ich habe mich gegenüber den zwei Wanderern die wir im Nationalpark nördlich von Taiwan zufällig getroffen haben und die uns dann auf ein Essen eingeladen und noch heimgefahren haben fast unangenehm gefühlt, habe dann versucht den Unterschied zu erklären, was passieren würde wenn sie einen Deutschen in den Münchner Bergen random treffen würden. Wir seien wie Inseln, auf denen wir Häuser, Autos, Statussymbole aufhäufen, dann ziehen wir einen Jägerzaun drum herum und rufen dann von oben herunter: Alles ok bei dir da unten?

Zurück zu Tschörmenie. Die S-Bahn Story symbolisiert für mich München im Speziellen, aber Deutschland im Allgemeinen: Der Ton ist Rauh, die Haltung ist Egozentrisch, der Fokus liegt auf Besitz und Status. Letzteres eher im versteckt-narzisstischen Sinne: Im Kern zeige ich egozentrisches und rücksichtsloses Verhalten, aber mime dann nach außen mit voll sozialen Klamotten und irgendwelchen pseudo-Engagements den Gutmenschen oder Naturburschen. Die Message: Ich bin ja so toll, quasi ein perfekter Mensch, aber gleichzeitig so bodenständig. Ich bin supertoll, ja noch viel besser, denn ich zeige es nicht – jedenfalls nicht offensichtlich. Aber ich hoffe trotzdem inständig, dass jeder das jetzt verdammtnochmal mitbekommen hat wie toll ich bin! Sonst plärre ich noch lauter!

Nun, es sind ja nicht alle so. Das stimmt. Aber viele – zu viele. Unlängst habe ich das in einem Podcast von einem (deutschen) Auswanderer sinngemäß gehört: Mit Deutschen kannst du dich halt immer über alles negative unterhalten: Die Kollegen sind doof, der Staat marode, die Bahn unpünktlich, die Steuern zu hoch, das Wetter immer zu kalt oder zu warm – aber nie passend ;-)… und das färbt eben ab. Den Satz würde ich so unterschreiben. In den Ländern die wir bisher bereist haben erntest du für diesen Sprech höchstens Verwunderung. Ich für meinen Teil bekomme ernsthafte Sorgen, mich wieder daran anzupassen, sobald wir zurück sind.

Aber da ist na noch ein bisschen Zeit hin 😉

Cheers, Jan

Jan, Jahrgang 1986, peliepter Redner und Schöngeist

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